(...) Panta rhei – alles ist im Fluss. Dieser berühmte Ausspruch, den man dem griechischen Philosophen Heraklit nachsagt, rührt an die Anfangsgründe des Daseins. Und das heißt nicht nur, dass das Leben an sich aus dem Wasser kommt – wie dies Heraklits sehr viel älterer milesische Kollege Thales noch behauptet hatte. Heraklit fasste den Gedanken weniger konkret und schon ganz modern auf, dass sich stets alles verändert, sich kaum greifbar, aber unablässig im fließenden Übergang befindet. Selbst der Stein, Inbegriff des Stabilen, Unverrückbaren, ja Unverwüstlichen, ist – einmal dem Fluss ausgesetzt, ein Spielball der sich ständig verändernden Natur. Wasser und Stein: Rivalen im Lauf der Zeit, weil das Fließende das Bestehende vorsätzlich oder notgedrungen unterspült, mit sich reißt; und weil das Feste andrerseits dem vergänglichen Element einen Widerstand entgegensetzt beziehungsweise jeglichem Tun Einhalt gebietet, kurzum wo die Brandung gegen die Klippe rauscht, ein Schiff zerschellt. »Steter Tropfen höhlt den Stein« kennen wir als Sprichwort des Ovid, aber auch die Redewendung »Stein des Anstoßes« aus dem anderen Lager ist uns geläufig, die ihre Wurzel in der Bibel hat, wo es bei Jesaja heißt: »Ich bin der heilige Zufluchtsort, aber ich bin auch der Stein, an dem man sich stößt; ich bin der Fels, der die beiden Reiche Israels zu Fall bringt.« Aber nicht nur Rivalität drückt sich in diesem elementaren Gegensatzpaar aus. Auch das miteinander Formbare, das aufeinander Einlassen ist ein Wesenszug, der sich symbolhaft im Nebeneinander von Wasser und Stein zeigt, der letztlich unsere Gesellschaftsfähigkeit ausmacht. Denn darum geht es doch bei Heraklits Votum, alles sei im Fluss, mal miteinander, mal gegeneinander – ohne Gegensätze gäbe es diese Veränderungen wohl weniger, Harmonie wäre in diesem Gedankenspiel ein Ausbalancieren unterschiedlicher, flüchtiger Seinsformen, stets in Gefahr, zerstört zu werden und faszinierend, weil sie so immer aufs Neue erkämpft werden muss.
Anna Ocken-Puffer widmet sich in ihren Arbeiten mit Vorliebe dem Wasser und dem Stein. Sie zeigt abstrakte Landschaften und Naturausschnitte, die zunächst ganz persönliche Erfahrungen widerspiegeln. Sie sind jedoch von vornherein losgelöst vom naturalistischen Vorbild und weit davon entfernt, bewusste topografische Assoziationen zu wecken, unabhängig davon, dass hier und da geografische Zuweisungen in den Titeln auftauchen. »Schottische Landschaft« etwa mag freilich vom konkreten Erlebnis herrühren, die Nummerierung I, II und folgende relativiert aber bereits das Erlebte mit dem Wahrgenommenen, Titel wie »Karst« verweisen schon auf Allgemeineres wie die Korrosionseinwirkungen auf den Stein durch das Wasser, »Bruch« weist dann sogar über den Naturaspekt hinaus auf Zerbrechliches, Vergängliches im Allgemeinen. Bruchstücke kennen wir aus allen Lebensbereichen.
Die Künstlerin legt Wert darauf festzustellen, dass Kunst einer anderen Ordnung folgt als die Natur. Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber als Prämisse nach wie vor gültig. Es ist doch faszinierend, wie die Ordnungsgefüge von Kunst und Natur in der Abgrenzung und Angrenzung, im Einklang wie im Widerspruch immer neue Deutungen hervorruft. Die kunstvollen und die künstlichen Welten – von der Höhlenmalerei bis zur Medienkunst – sehen immer anders aus, weil sie nur im Dialog mit der sich ändernden Außenwelt entstehen. Alles fließt, panta rhei.
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Die Malerin braucht die reale Natur, um sich von ihr zu lösen. In ihrem Atelier hat sie Steine in Kisten gelagert: schroffe unförmige Brocken, nicht allzu groß, aber dergestalt, dass deren Kraft und Naturhaftigkeit spürbar ist. In einer frühen Arbeitsphase versichert sich Ocken sozusagen des materiellen Willens des Steins, indem sie sich zeichnerisch seiner Struktur nähert. Natürlich geht es schon hier gar nicht darum, eine realistische Studie zu schaffen. Vielmehr verdichten sich Schraffuren in tiefschwarze Kräftefelder oder sie kräuseln sich leicht um die porenhaften Öffnungen der schrundigen Oberfläche des Steins. Es ist verblüffend, wie nah und fern sich Naturbild und Abbild in diesem Stadium zugleich sind. Deutlich spricht aus diesen Arbeiten die zeichnerische Schoofs-Schule, die den Bleistift wie einen Zauberstab auf einer Partitur unzähliger Grautöne bis zum undurchdringlichen Schwarz hinreißt und ihn dann wieder behände übers Papier spazieren führt mit leicht schlenderndem Schwung. Die Linie ertastet sich regelrecht ihren Gegenstand, und sie nimmt sich die Freiheit heraus, ihn sogleich auch wieder zu sabotieren. Im Ergebnis entsteht ein Linienspiel zwischen suchender Skizze und selbständiger, selbstbewusster Zeichnung. Gegenüber dem abwägenden Strich des Bleistifts tritt die Linie in den Kaltnadelradierungen entschieden, fast möchte man sagen, unerbittlicher auf. Als Beispiele sehen Sie hier lapidare Annäherungen an die Landschaft, die bezeichnenderweise Titel tragen wie »Klippe« oder »Hochgebirge«.
Im nächsten Schritt setzt Anna Ocken-Puffer das frei gewordene Liniengeflecht in farbige Flächen um. Zuweilen ist sogar der Schraffurstil noch erkennbar – nur hat die Schraffur eine ganz andere Qualität, wenn sie mit dem Pinsel anstatt mit dem Bleistift aufgetragen wird: Die nunmehr breite Pinsellinie muss sich automatisch als Fläche präsentieren, zumal im lasierenden Auftrag, der die neuesten Arbeiten der Künstlerin prägt. Die Ausgangslage ist nun nicht mehr der Stein beziehungsweise das Wasser als See oder Fluss, sondern die Farbe, sprich: die abstrakte Fläche. Die Malerei, so Ocken-Puffer, soll als Thema erhalten bleiben. Das heißt: Landschaft ergibt sich erst in der Synthese verschiedener Farbflächen, obwohl diese immer das bleiben, was sie sind. Egal, ob der senkrecht nach unten stürzende Wasserfall sich in das ebene Flussbett ergeht, oder ob der dahinströmende Fluss oder der sich in der Weite ausbreitende See am aufstrebenden Gestein entlang im Blickhintergrund verliert: die hier präsentierten Bilder schaffen keine tiefenräumliche Illusion. Kaum glaubt unser Auge einen nach hinten geöffneten Raum zu erkennen, macht uns eine nach vorn drängende Farbe einen Strich durch die Fiktion oder der Farb- beziehungsweise Flächenverlauf bremst die Wahrnehmung und lenkt die Konzentration auf die Malerei als solche. Und die verhält sich ganz ehrlich – was immer ich aufs Papier bringe, es bleibt Farbe auf einem zweidimensionalen Grund. Sind wir aber immer frei in der Wahrnehmung? Psychologisch gesehen, werden wir immer dem blauen Grund das Element Wasser zuordnen, sobald die Titel darauf Bezug nehmen wie in den Gemälden »Wasserpflanzen« oder »Im Wasser«, die zu den zartfühlendsten Bildern dieser Ausstellungen gehören. Unterschwellig funktioniert das häufig, auch ohne den dezenten Hinweis.
Nun, das Besondere dieser Werke ist, dass der Kern immer noch das landschaftliche Motiv festhält und damit sozusagen unserer Seherwartung entgegen kommt. Anna Ocken-Puffer ist überzeugt, dass die bloße Abstraktion schnell ins Beliebige entgleiten kann. Um dieser Gefahr zu entgehen, hat sie während der Arbeit eben jene Attribute des Ausstellungstitels – Wasser und Stein – in der Erinnerung sozusagen als Schatz deponiert. Wenn sie sich also in die Abstraktion hineinwagt, geht sie nicht so weit wie die Vertreter einer reinen Malerei und sie folgt nur dem Stil nach den Ambitionen eines abstrakten Expressionismus. Und sie kann getrost ihre Werke namentlich real verorten, sei es als schottische Landschaft oder sogar konkret als »Loch Lomond«, nur als Beispiel. Dabei muss sich jener schönste See Schottlands nordwestlich von Glasgow gar nicht wirklich zu erkennen geben. In den jüngsten Arbeiten folgt die Malerin einer anderen Konkretion, die sich über abstrakte Formen und Flächen entwickelt hat: nämlich Steine, die schon durch ihre Farbigkeit eine eigene Realität beanspruchen, nur noch vage ihre Verwandtschaft zum Vorbild erkennen lassen, und dennoch in ihrer Metamorphose gezeigt werden – die Auflösung der noch vorhandenen geometrischen in die porös gebrochene Form. »Bruch« nennt Ocken-Puffer denn auch einige ihrer Bilder.
Damit komme ich auch schon zu einer dritten Gruppe von Arbeiten in dieser Ausstellung. Neben den Zeichnungen und den Gemälden schafft die Künstlerin auch dreidimensionale Objekte, die – es mag widersprüchlich klingen – weiter vom Naturbild entfernt sind und zugleich dem Thema, Wasser und Stein, am nächsten stehen: und das, obwohl sie aus Draht gemacht sind. Die verzinkten Eisendrähte sind auf den ersten Blick wiederum abstrakte Geflechte, sodass die Titel wie »Bruch«, auch hier, zunächst irritieren. Aber abstrahieren wir selbst unser Bild von der Landschaft zur geologischen Struktur, konkretisiert sich die Drahtparade zur kristallinen Gesteinsform, das sich windende Eisengeflecht öffnet sich zur topographischen, ja fast wissenschaftlich reflektierten und mathematisch kalkulierten Zeichnung einer Flusslandschaft. Verwundert blicken wir dem Stein und dem Wasser förmlich auf den Grund seiner inneren Struktur.
Meine Damen und Herren, die Werke von Anna Ocken-Puffer zeigen uns die fließenden Übergänge im Miteinander der Elemente Stein und Wasser, in ihrer Abstraktion verweisen sie zudem auf die fließenden Übergänge von Naturvorbild und abstrakter Malerei beziehungsweise Plastik. Lassen Sie sich entführen in eine Zwischenwelt, die beide Seiten zu erkennen gibt und sich letztlich als Kunstwelt treu bleibt.