Anna Ocken-Puffer

Einführung zur Ausstellung „Zeichnungen, Aquarelle, Gouachen …“ Alte Kelter Stuttgart-Vaihingen 2012

Gebirge, gewaltige Ansammlungen von Gestein, im Entstehungsprozess aufgeworfen, gefaltet, durch Erosion, die Einwirkung von Wasser zerklüftet, eingeschnitten, ausgefräst: dies ist ein Thema, mit dem ich mich zeichnerisch auseinandersetze.


Mit diesem Selbstzitat von der Einladungskarte für diese Ausstellung ist ein Themenschwerpunkt meiner Arbeiten insgesamt angesprochen, außerdem gleichzeitig ein Schwerpunkt dieser Ausstellung, nämlich die Zeichnung.


Das Zeichnen ist ein grundsätzliches Handwerkszeug künstlerischer Arbeit, es gehört zur Grundausbildung, es ist unverzichtbar, egal in welche Richtung sich die künstlerische Entwicklung später bewegt.

Das Wort „zeichnen“ ist auch im Verb „bezeichnen“ enthalten und ist verwandt mit dem Wort „Zeichen“. Darin offenbart sich ein wesentlicher Aspekt des Zeichnens, ja der künstlerischen Arbeit überhaupt, nämlich das Finden und Erfinden von Zeichen.


Dies erschließt sich sehr schön, wenn man beobachtet, wie Kinder zeichnen beziehungsweise malen lernen. Es beginnt mit dem Erlernen der Motorik: das Kind nimmt den Stift in die Faust und fährt damit auf dem Papier herum: mehr oder weniger kreisförmig oder auch heftig auf und ab. Es entstehen expressive Krakel, so etwas finden Sie übrigens auch in meinen Zeichnungen wieder.

Dann folgt das „richtige“ Zeichnen. Das heißt, ein Kind macht Beobachtungen in seiner Umgebung und zeichnet und malt, was es gesehen und erfahren hat.

Wie sehen solche Zeichnungen aus, zum Beispiel die Darstellung eines Menschen: Das Kind zeichnet ein bis zwei Kreise oder Ovale, nämlich Körper und Kopf. In den Kreis für den Kopf zeichnet es das Gesicht nach dem Motto Punkt – Punkt – Komma – Strich oder so ähnlich. Es kommen eventuell noch Striche für die Haare dazu. An den Körper werden mit Strichen, später mit länglichen Rechtecken Arme und Beine angesetzt. Die Füße sind oft lang gezogene Ovale – man trägt ja Schuhe. Manchmal auch ein Strich oder Oval mit kleinen Strichen dran, das ist dann barfuss. Die Hände werden ähnlich angesetzt: entweder direkt Striche (nicht unbedingt immer fünf) an den Arm oder erst noch ein kleiner Kreis für den Handteller und dann die Striche. Später kommt dann Kleidung dazu.

Das alles ist zwar sachlich richtig, hat mit unserer Vorstellung einer gegenständlichen Zeichnung nicht so viel zu tun. Trotzdem ist es eine. Das Kind findet Zeichen für das, was es beobachtet hat (nämlich zum Beispiel wie ein menschlicher Körper im wesentlichen aufgebaut ist) und setzt das aufs Papier. Es zeichnet, was es weiß und was für den entsprechenden Gegenstand typisch ist, und nicht eine bestimmte zufällige Ansicht davon.Und es macht das in Form von grafischen Zeichen, die allgemein verstanden werden, weil sie eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Gegenstand aufweisen.


Der Künstler, der eine gegenständliche Zeichnung fertigt, macht nicht so etwas Grundverschiedenes, obwohl das Ergebnis das zunächst vermuten lässt. Er betrachtet den Gegenstand genau, ja er lernt dabei auch, genau hinzusehen. Dann setzt er seine grafischen Mittel ein, um die räumlichen und plastischen Eigenschaften einer Situation wiederzugeben, also räumliche Tiefe und Körperlichkeit vorzutäuschen, Lichteinfall zu simulieren, Oberflächenbeschaffenheit zu imitieren.

Ich formuliere das mit Absicht so, denn natürlich bleibt, trotz all der erwähnten Tricks, eine Zeichnung flach, zweidimensional. In ihr scheint kein Licht von irgendwo, es gibt nur das Licht, das auf das Papier fällt. In ihr ist keine Oberflächenstruktur als die des Papiers und der Spuren des Mediums (Bleistift, Kohle etc), sofern dieses Mittel überhaupt eine Oberflächenstruktur hat (Tusche z.B. hat keine).


Was dafür aber tatsächlich vorhanden ist, ist eine Ansammlung von Linien, Grauwerten, Schraffuren, Krakeln etc. Daraus sind die grafischen Zeichen zusammengesetzt, die eine Ansicht des Gegenstandes vermitteln sollen. Das kann bei einer Skizze tatsächlich sehr zeichenhaft sein, und da ist auch der Bezug zu der vorher beschriebenen Kinderzeichnung zu sehen.

Es kommt aber bei der Arbeit des Künstlers noch ein wesentlicher Aspekt hinzu, das ist der künstlerisch formale: Wenn eine Zeichnung aus Linien, Schraffuren und so weiter besteht, dann ist das wie gesagt die Realität auf dem Papier und muss auf der zur Verfügung stehenden Fläche organisiert werden. Da geht es nicht um Apfel oder Haus oder - wie in meinem Fall – Gestein und Gebirge, sondern um Kreise oder Ovale, Rechtecke oder Dreiecke oder eine Kombination davon, gezackte Linien, Linienbündel, und die schon erwähnten Grauwerte, Schraffuren und so weiter. Das muss zueinander in bildnerische Beziehung – nicht in gegenständliche – gesetzt werden, das verlangt Schwerpunkte, da spielen formale Ähnlichkeiten oder Abweichungen, Reihungen und Verdichtungen eine Rolle.


Man kann Bilder und natürlich auch Grafiken nur von dieser rein formalen Seite her betrachten oder auch machen. Für mich reicht das alleine nicht aus. Ich muss auch die gegenständliche Interpretation mit einbeziehen. Es macht für mich einen Unterschied, ob eine Schraffur für eine dunkle Stelle eines Steines oder eines Apfels oder eines Blattes steht. Ich ziehe zwar aus der Gegenständlichkeit die grafischen Qualitäten heraus, entwickle in der Studie des Gegenstandes ein Formenrepertoire, das aber nicht losgelöst vom Gegenstand zu betrachten ist, sondern entscheidend von ihm mitbestimmt wird. Daraus baue ich dann Landschaften, die an die gesehenen erinnern, ohne dabei einfach nur eine Nachahmung mit zeichnerischen Mitteln zu sein. Es ist – und das ist ja nicht neu, das hat schon Cezanne postuliert – eine Parallelwelt zu Gegenstandswelt.


Dies klingt so natürlich sehr theoretisch, ich kann es aber gerade an den Zeichnungen der Serie „Wasser und Felsen“ gut erläutern: Begonnen habe ich mit dem Studium ganz konkreter Steine, die ich aus dem Garten mit ins Atelier genommen habe. Daran habe ich mir die Formenwelt von Steinen allgemein erarbeitet. Selbst wenn jede Gesteinsart unterschiedliche Formen und Oberflächen hervorbringt, so haben sie ja doch auch vieles gemeinsam. Der zweite Schritt war dann die Simulation von Landschaften, indem ich die Steine entsprechend arrangiert habe. Die dabei entstandenen Zeichnungen waren dann schon keine genauen Studien mehr, sondern freie Nacherfindungen und auch Variationen.

Die großen Zeichnungen dagegen sind völlige Neuerfindungen. Da habe ich keine gegenständliche Situation mehr vor Augen gehabt, allerdings hatte ich bis dahin genug Steiniges gezeichnet, und hatte natürlich auch die Erinnerung an bestimmte Landschaften. Trotz der Anklänge an die erinnerten Landschaften sind diese Zeichnungen völlig abstrakt. Wie schon gesagt, ging es beim Zeichnen nicht um Stein und Fluss und Felsen, sondern um optische Gewichte, Strukturen, formale Zusammenhänge.

Das dabei trotzdem eine Art „Landschaft“ entsteht, die zudem an felsige Flussbetten erinnert, kommt natürlich daher, dass die verwendeten grafischen Elemente aus solchen gegenständlichen Situationen entwickelt wurden und die Erinnerung an diese Landschaften beim Zeichnen im Hinterkopf herumspukte.

Damit bewegt sich meine Arbeit – und das gilt natürlich auch für die Malerei und für die Plastiken - genau in diesem Spannungsfeld zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion, bei der Zeichnung vielleicht mehr dem Gegenständlichen zugeneigt, bei der Malerei mehr der Abstraktion.


Bei den Plastiken gilt dies sogar noch in besonderer Hinsicht. Zum einen sind sie von vornherein sehr abstrakt gemeint. Ich nenne sie Landschaftsmodelle - und das sind sie auch. Modellhaft habe ich mir bestimmte Situationen vorgestellt – wie zum Beispiel das mäandernde Tal eines Flusses oder der Einschnitt einer Klamm in Felsen an einer Bruchstelle - und sie dann ähnlich wie im Modellbau nachgebaut, allerdings mit der Einschränkung, dass das Gestalterische immer Vorrang vor dem Gegenständlich-Planmäßigen hatte.

Zudem hat mich die Übersetzung von Zeichnung in ein dreidimensionales Gebilde fasziniert, das Ergebnis sind diese Landschafts-„Konstruktionen“ aus Draht, die durch ihre Linearität natürlich direkt mit der Zeichnung verwandt sind. Es sind quasi dreidimensionale Zeichnungen, mit dem Wechsel des Blickwinkels ergibt sich jedes mal eine andere Grafik.